Gerichtsurteil vor 130 Jahren – Fast das ganze Dorf streitet vor Gericht

Schäfer mit Schafen
Foto: Christa Heinrich, bitte copyright beachten!

Der große Gronauer Hüte-Streit von 1889

von Hansfried Münchberg unter Auswertung eines Fundes und dessen Transkription von Liane Schaub

Bei Recherchen zur Dorfelder 1250 Jahrfeier stieß Liane Schaub im Gemeindearchiv von Niederdorfelden auf ein sehr interessantes Schriftstück, das ein Schlaglicht über die Gronauer Familienstrukturen, aber auch auf die Schlitzohrigkeit der Gronauer Bauern gibt.

Im Gemeindearchiv Niederdorfelden fand sie die Niederschrift , mehr als 40 eng in Kurrentschrift beschriebene Seiten, eines Urteils „Im Namen des Königs“ aus dem Jahre 1889. Dankenswerterweise hat Frau Schaub das ganze Schriftstück aus der altertümlichen Schrift in für uns heute lesbare Buchstaben transkribiert.

Urkunde

Damals stritt fast das gesamte Dorf, nämlich 161 Klagebeteiligte, darüber, wo das Vieh gehütet werden durfte, bzw. wer das Recht hatte, Vieh auf die Wiesen und die abgeernteten oder brachliegenden Felder zu treiben. Für das Jahr 1889 gibt es keine genauen Aufzeichnungen über die Einwohnerzahl, es gibt eine Angabe für 1895, da hatte Gronau 369 Einwohner.

Das ganze, sich über Zwei Jahre hinziehende Verfahren begann mit dem Satz: „Wir, die unterzeichneten Grundbesitzer der Gemarkung Gronau beantragen die Hütebefreiung und wirtschaftliche Zusammenlegung der Gemarkung Gronau.“

Heute würde man das eingeleitete Verfahren wohl als „Feststellungsklage“ bezeichnen, in der Juristensprache der Zeit hieß es „Provokationsklage“.

In schönstem Juristendeutsch, das sich über die ganze Niederschrift hinzieht, wurden die Gerichtsfeststellungen, Untersuchungen und Verhandlungen geschildert. Es gibt so schöne Begriffe wie „Hütegerechtsame, Servitut, litisdenunziatisch, Spolium betreffend, Spezialkommissions – Sekretär“. Um die Sache zusätzlich zu verunklaren, wurden sowohl Kläger als auch Beklagte als „Provokanten“ bezeichnet, so daß man nicht immer gleich weiß, wer jeweils gemeint war.

Die Namensliste zu diesem Verfahren liest sich wie das „who is who“ der Gronauer Bauernschaft.

Geklagt hatten im Jahr 1888 der damalige Bürgermeister Böckel sowie weitere 58 Kläger, darunter auch einige Bewohner aus Dortelweil, ebenso der Bürgermeister Jacob Steul von Niederdorfelden.

Um zur Klage berechtigt zu sein, mussten sie Grundbesitzer in Gronau sein.

Zur Klageberechtigung gehörte auch, daß sie über mindestens ein Viertel des Grundbesitzes in der Gemeinde Gronau verfügten. In die Klage einbezogen war auch die Gemeinde Gronau, die Schule sowie die Kirchengemeinde.

Ebenfalls als Kläger aufgeführt waren einige Dortelweiler, der Bürgermeister von Niederdorfelden, der Gymnasialfonds zu Hanau, das Pflegeamt des allgemeinen Almosenkastens zu Frankfurt, der königlich preußische Domänenfiskus, die Schule zu Gronau, sowie noch heute in Gronau bekannte Namen wie Schwind, Fauerbach, Mohr, Kalbhenn und viele andere.

So ziemlich der gesamte Rest des Ortes, nämlich 102 Personen war beklagt, beziehungsweise als der Klage Widersprechende dem Verfahren beigetreten. Darunter waren ganz viele Wenzel (22 x) , Laupus (6 x) , Diehl (9 x), Schott, Schwind (6 x), Völp, die politische Gemeinde Gronau, Böckel, Empter, Fassel, Giesel, Kalbhenn, Meisinger, Arnold und einige andere noch heute im Gronauer Adressbuch zu findende Namen.

Als Begründung für den Widerspruch gegen die Klage hatten Letztere ausgeführt, erstens hätten die Kläger nicht ein Viertel des zur Gemeinde gehörenden Grundes in ihrem Besitz, zweitens hätte einer von ihnen Teile seines Besitzes in der Zwischenzeit verkauft, drittens seien einige Klagende, die als Vormund ihrer Kinder eingetreten waren, nicht klageberechtigt. Weiter seien einige angeführte Grundstücke eigentlich gar nicht einzurechnen. Ferner sei das Hüterecht über einen Zeitraum von mehr als sieben Jahren nicht genutzt worden, somit sei es verfallen. Desweiteren „würden vielmehr die in Folge der Verkoppelung an sich schon entstehenden hohen Kosten durch den alsdann stattfindenden Chaussee-mäßigen Ausbau eines Weges nach Rendel und der Errichtung einer massiven Brücke ganz erheblich vermehrt und die Gemeinde mit Schulden überlastet werden. Auch würde eine Gefährdung des Obstbaumbestandes eintreten.“

Es ging wohl in erster Linie um die linksseitig der Nidda gelegenen Weiden, etwa 12 ha Wiesen, da die rechtsseitig der Nidda liegenden Wiesen bis Dortelweil und Frankfurt unstrittig und ausschließlich vom Gronauer Hof, der Staatsdomäne beweidet werden durften. Die Beklagten bestritten überhaupt, daß es ein Weiderecht für andere Tiere als Schafe, also für Rinder, Schweine und Gänse gäbe.

Zur Aufklärung der Vorgeschichte des Rechtstreits wurde vom Gericht ein „Kommisarius“ eingesetzt, der zunächst einmal feststellte, daß die Gemeinde Gronau mit einem Vergleichsbescheid vom 30. Juni 1862 vom Kurhessischen Staat die Weiderechte erworben hatte und diese auch viele Jahre ausgeübt hatte. So sei bis zum Jahre 1874 noch von der Gemeinde ein Schäfer besoldet worden, danach sei die Schäferei zugunsten der Gemeindekasse verpachtet gewesen, so habe die Pacht beispielsweise im Jahr 1874 immerhin „274 Thaler 10 Silbergroschen“ eingebracht. Bei der Terminverhandlung wurden dem „Kommisarius“ sechs auf Schaf-Hüte verweisende Protokolle aus dem Gemeinderat für die Jahre 1875 bis 1880 vorgelegt. Seinerzeit wurden etwa 300 Schafe auf die Gemeindeflächen getrieben. Diese Verpachtungen wurden seitens der Beklagten immer wieder angezweifelt und bestritten. Obwohl die Protokolle darüber schriftlich vorgelegt wurden haben die Verhandlungsführer der Beklagten „eine jede Erklärung über diese Protokolle sowie über den mehrfach erwähnten in beglaubigter Abschrift ebenfalls vorgelegten Vergleichsbescheid abgelehnt und das Terminszimmer, ohne den Schluss der Verhandlung abzuwarten, verlassen.“

Zunächst einmal ließ der Kommisarius die Besitzverhältnisse und den strittigen Viertel-Anteil klären. Dazu wurde mehrfach der Spezialkommissions – Sekretär vom Hanauer Katasteramt angefragt, dieser stellte fest, daß die Kläger sehr wohl einen Anteil von mehr als einem Viertel des in Frage stehenden Landes besäßen, so daß sie klageberechtigt seien.

In nachfolgenden Sitzungen wurde seitens der Beklagten dieser Viertel – Besitzanteil immer wieder bestritten.

Da die Kirchen-Gemeinde Gronau über Landbesitz verfügte, der Pfarrei Gronau gehörten auf dem links der Nidda gelegenen Gemarkungsteil 3ha 56a 55qm, geriet auch der Gronauer Pfarrer Münch zwischen die Fronten. Er hatte zunächst der Klage widersprochen. Zum Ende der Verhandlung hat er aber zugestanden, daß die Klage wohl begründet sei und ist der Klage beigetreten, hat also damit die Seiten gewechselt.

In Anbetracht des Umfangs des juristischen Verfahrens, die durch die Klage und den Widerspruch ausgelöst wurde, sind den Gronauern beider Seiten allerdings angesichts der zu erwartenden Gerichts-Kosten daraus starke Bedenken gekommen. Um nicht in die Gefahr zu kommen, die Gerichts-Kosten tragen zu müssen haben beide Seiten daraufhin beantragt, das Verfahren vorläufig auf sich beruhen zu lassen und von einer richterlichen Entscheidung abzusehen.

Nachdem aber weitere Kläger dem Verfahren beigetreten waren, nachdem auch klar war, daß das erforderliche Viertel Land in Besitz war, nachdem es sich abzeichnete, daß das Verfahren wohl zu gewinnen war, daß damit die Prozesskosten nicht selbst, sondern von der Gegenseite zu tragen waren, bestanden die Kläger auf Weiterführung des Verfahrens.

Nach mehreren Verhandlungs-Terminen, wobei verschiedene, früher geschlossene, Verträge überprüft und in die Urteilsfindung einbezogen wurden hat die königliche Generalkommission zu Kassel abschließend in ihrer Sitzung vom 9. Juli 1889 den Akten gemäss für Recht erkannt:

Der Antrag der Provokanten auf Hüteablösung und wirtschaftliche Zusammenlegung der Grundstücke der Gemarkung Gronau wird unter Zurückweisung des von den Provokanten dagegen erhobenen Widerspruchs für gesetzlich begründet erachtet.

In der ausführlichen Urteilsbegründung wird unter Anderem darauf verwiesen, daß auf dem linksseitig der Nidda gelegenen Gemeindeteil eine:

„so sehr vermengte Lage der Grundstücke und des zersplitternden Besitzstands, welche Tatsachen sowohl durch das auf Augenschein beruhende kommissarische Gutachten nachgewiesen sind, als auch notorisch feststehen, eine besondere, zur wirtschaftlichen Abfindung geeignete Fläche nicht vorhanden ist . Es ist daher im vorliegenden Fall die Ablösung der Servitut (Dienstbarkeit) ohne gleichzeitige wirtschaftliche Zusammenlegung der hütebelasteten Grundstücke nicht ausführbar und daher die Zusammenlegung derselben für erforderlich zu erachten.“ Auch die von den Beklagten angeführte starke finanzielle Belastung der Gemeinde durch Chaussee- und Brückenbau wird als nicht für eine Entscheidung in der Sache relevant zurückgewiesen.

Die Frage ob die Kläger zur Klage berechtigt waren, bejaht die Kommission, hierzu heißt es: „Nach den auf dem königlichen Katasteramt zu Hanau von dem Kommissions-Sekretär Böttger aufgestellten und wiederholt verglichenen Besitztumsverzeichnisses vom 19. Oktober 1888, 1. Dezember 1888, 1. Mai und 11. Juni 1889 umfasst der Gemarkungsteil Gronau links der Nidda an Ackerländereien 275ha 04a 19qm.

Die Kläger besitzen von diesen Ackerländerreien 73ha 42a 57qm, mithin mehr, als zu dem gesetzlichen Viertel erforderlich ist.

Der rechts der Nidda gelegene Gemarkungsteil zu Gronau umfasst an Ackerland 86ha 89a 03qm. Hiervon sind die hütefreien und daher von dem Zusammenlegungsverfahren ausschließenden

61ha 59a 03qm großen Ackerländereien, welche zu dem Gutsbezirk des gleichfalls auf dem rechten Nidda-Ufer gelegenen domänenfiskalischen Gronauer-Hof gehören, in Abzug zu bringen.

Es verbleiben mithin noch 25ha 30a, Ackerländereien, welche mit der Hüte des Domänenfiskus belastet sind und bäuerlichen Interessenten, vornehmlich Ausmärkern gehören. Die Antragsteller besitzen hiervon 9ha 68a 05qm, also mehr als das gesetzlich erforderliche Viertel.“

Weiter stellte das Gericht fest, das neben Schafen selbstverständlich auch Schweine, Rinder und Gänse auf die Weiden getrieben werden dürfen.

Mit der, sich über viele eng beschriebene Seiten hinziehenden, Urteilsbegründung gibt die Kommission den Klägern weitestgehend recht, auch stellt sie fest, daß das Hüterecht nach sieben Jahren der Nichtnutzung keineswegs verfallen sei.

Die Kosten des Verfahrens wurden überwiegend den Beklagten, bzw. Widersprechenden auferlegt.