Die Weidensträucher der Nidder oder „Wie bringe ich ein Dorf in Aufruhr“

von Alfred Fischer

Wenn man an die Nidder spazieren geht, fallen einem die vielen Weidensträucher auf, mit denen ihr Ufer bewachsen ist. Das war auch an der Nidda so, bis man sich entschied, einen Kanal aus ihr zu machen. Nur mühsam, aber doch stetig erobern sie sich in den renaturierten Bereichen ihren Stammplatz zurück und erfreuen den Naturliebhaber. Denn schon sehr früh, bereits mit den ersten Sonnenstrahlen des Frühlings, erwachen die Weiden zum Leben. Lange bevor alle anderen Sträucher mitbekommen, daß der Winter vorbei ist, beginnen sie sich hellgelb zu färben. Die Weidenkätzchen bilden Blütenstaub aus, der wiederum ganze Heerscharen von Bienen anlockt und den gesamten Busch zum Summen bringen. Erst danach beginnen mit zartem Grün die Blätter zu sprießen.

Als Kinder hatten wir keinen Blick für dieses Frühlingserwachen. Die Weiden waren eher aus praktischen Gründen beliebt. Lieferten sie doch den Rohstoff Holz für viele Dinge, die wir für unsere Aktivitäten und Spiele brauchten.

Hatten wir noch im Winter den passenden Ast für einen Eishockey- Schläger abgesägt und zugeschnitten, waren es im Frühjahr und Sommer andere Spiele, für die wir bestimmte Äste und Zweige der Weide benötigten.

Eigentlich ganzjährig und immer im Blick hatten wir wohlgeformte Astgabeln, die sich zur Herstellung einer Spatzenschleuder oder auch „Zwockel“ eigneten. Ausgerüstet mit zwei Rexgummies, die an je einem Teil der Gabel befestigt wurden, und einem Lederlappen dazwischen, wurde sie zu der Waffe, die einem das Gefühl der Unbesiegbarkeit verlieh. Heute würde man sie seinem eigenen Sohn oder Enkel verbieten, weil sie ja wirklich gefährlich werden kann, wenn man die entsprechende „Munition“ verwendet.

Gerade gewachsene, besonders lange Triebe wurden zu Speeren und noch heute erinnere ich mich an den Flug und das Wedeln der dünnen Enden, bevor sich die Spitzen im Ziel in den weichen Boden bohrten. Wie bei fast allen Spielen- und das ist ja wohl heute noch genauso- kam es zum Wettbewerb untereinander. Weite oder Treffsicherheit waren die Kriterien für den Sieg. Damit die Speere nicht vertauscht werden konnten, erhielten sie eine individuelle Markierung. Die weiche, grüne Rinde wurde mit dem Taschenmesser kunstvoll eingeritzt und entfernt. Es entstanden weiße Ringe unterschiedlicher Breite, unverwechselbare Muster oder auch die Initialen des Besitzers.

Wer uns auf die Idee gebracht hatte eine Tröte aus Weidenrinde zu bauen und woher die Anleitung dazu kam, kann ich heute nicht mehr sagen. Es ist mir aber in Erinnerung geblieben, weil es uns dabei gelungen war, das halbe Dorf in Aufregung zu versetzen.

Es kann nur im Frühling oder Frühsommer gewesen sein, als wir beschlossen, die Idee in die Tat umzusetzen. Im Frühjahr steht die Weide voll im Saft und die Rinde läßt sich leicht vom Ast trennen. Die Rinde selbst muß danach feucht und biegsam sein um aus ihr einen Trichter zu formen, der wie bei einem Blasinstrument den Ton verstärkt.

Es war wie immer die ganze Horde, die sich an der Aa-Brück traf , um die- nennen wir sie Aa-Horn- zu bauen. Es wurden Äste geschnitten und es wurde geschnitzt, gebastelt und auch mal geflucht wenn nicht alles gelang wie geplant. Am Ende hatte jeder- mit mehr oder weniger Hilfe eines anderen- sein eigenes Instrument in Händen. Eine Anleitung zum Bau füge ich an.

Beim Ausprobieren stellten wir fest, daß jede Tröte eine eigene Klangfarbe hatte, die Lautstärke aber bei allen etwa gleich groß war. Gemeinsam geblasen wurde es ein richtiges Konzert, nur zugegeben weniger harmonisch. Wer sich an die Fußball- Weltmeisterschaft in Südafrika erinnert und an den vielstimmigen Radau der Vuvuzelas, kann sich ungefähr vorstellen, wie es klang.

Wir waren begeistert vom Ergebnis unserer Arbeit und den Tönen, die wir der Tröte entlockten. Es wurde aber noch viel besser, wenn der Schall von den ersten Häusern des Dorfes zurückgeworfen wurde. So bauten wir uns am Bachdamm zwischen Aa-Brücke und Rendeler Brücke auf und tröteten mit voller Kraft in Richtung Dorf. Für uns war es Musik, für andere sicherlich nur störender Lärm.

Es dauerte auch nicht sehr lange, bis wir Antwort bekamen. Erst vereinzelt, dann immer mehr Kühe meldeten sich mit lautem Gebrüll. So nach und nach kam es uns vor, als würden alle Kühe des Dorfes mit einstimmen. Wenn man bedenkt, daß jeder Bauer im Dorf auch Kühe hielt, kann man sich vorstellen, was das bedeutete: Unruhe pur. Zunächst spornte uns das Ergebnis an und wir versuchten lauter zu sein als die Kühe. Als aber der erste Bauer am Ortsrand erschien und uns mit erhobener Faust zum Aufhören aufforderte, brachen wir widerwillig ab und verzogen uns.

Die Tröte machte viel Spaß und sicher auch deshalb, weil sie eigenhändig hergestellt worden war. Leider war die Freude nicht von allzu langer Dauer. Die Rinde, bei der Bearbeitung feucht und biegsam, trocknete sehr schnell aus und schrumpfte zusammen. Bereits am nächsten Tag entstanden Risse und Spalten und die Form wurde unansehnlich. Auch das Mundstück trocknete aus, gab keinen Ton mehr von sich und musste ersetzt werden.

Der Spaß war dahin, aber wie immer in unserer Kindheit wandten wir uns anderen Dingen zu. Langeweile kannten wir nicht.

Anleitung zur Herstellung einer Tröte aus Weidenrinde, des Aa-Horn.

Die Anregung zur Namensgebung kommt übrigens von meinem Freund Rainer, der den Ort der Entstehung – der Gronauer Aa-zugrunde legt.

Für die Rinde selbst sucht man sich einen Weidenast mit einem Durchmesser von 30-40 mm. Der muß voll im Saft stehen, damit sich später die Rinde vom Holz löst.

Mit einem scharfen Taschenmesser schneidet man die Rinde bis auf das darunterliegende Holz diagonal ein. Der Ast wird dabei gedreht, sodaß es später möglich ist, einen Streifen mit einer Breite von 50-60 mm abzuschälen ( siehe unten). Durch geduldiges Beklopfen der Rinde mit dem Griff des Messers löst sie sich vom Ast und kann vorsichtig abgehoben werden.

Das Mundstück fertigt man aus einem Zweig mit einem Durchmesser von 8-10 mm. Auch hier ritzt man die Rinde ein und löst sie durch Klopfen mit dem Messergriff vom Holz. Das entstandene Röhrchen drückt man auf einer Seite flach und schält den grünen Teil der Rinde ab. Es entsteht eine Membrane, die beim Hineinblasen einen tiefen, vibrierenden Ton abgibt. Man darf nicht gleich aufgeben, wenn der erste Versuch misslingt und sich kein Ton einstellen will. Oft sind mehrere Versuche erforderlich, bis es gelingt.

Der Streifen aus der Rinde wird nun, beginnend am Mundstück so aufgerollt, daß ein trichterförmiges Gebilde entsteht. (siehe Skizze) Reicht ein Streifen nicht aus, lässt sich problemlos ein Zweiter anfügen. Mit kleinen dünnen Nägeln aus Holz fixiert man die Form.

Die Herstellung der Tröte ist nicht ganz einfach, der Erfolg entschädigt aber für die Mühe. Na dann: Tuuuuuuuuuuut, Tuuuuuuuuut.