„Fraaaa Hooooch …. !“

von Hansfried Münchberg

Wie von einer gespannten Spiralfeder angetrieben, war meine Großmutter von der Küchenstuhlvorderkante emporgeschnellt und hatte, mit wenigen Schritten, die Tür erreicht. Meine Oma saß immer nur auf der Küchenstuhlvorderkante, denn nur so konnte sie jene unnachahmlichen Beschleunigungswerte erreichen, wie sie später Armin Hary bei seinen Zehnkommanull über einhundert Meter berühmt gemacht haben

Meine Großmutter brauchte diese Beschleunigungstechnik um in Bruchteilen von Sekunden herbeieilen zu können, um einem Mitmenschen einen vermeintlichen Wunsch erfüllen zu können, noch bevor dieser diesen Wunsch äußern konnte.

Dieses „Fraaa Hoooch, en Krankescheiii !“ war eines der prägenden Geräusche meiner Kindheit, denn meine Oma war die personifizierte AOK – Gronau. Ich sage bewußt nicht, sie betrieb die AOK – Geschäftsstelle, nein, Oma war die AOK.

Wer in den frühen Nachkriegsjahren zum Arzt wollte, der musste sich vorher einen Krankenschein abholen. Dieses war sozusagen schon Teil der Therapie, denn wer bei uns an der Tür klopfte, der wurde hereingebeten, auch wenn er sich wegen lehmiger Schuhe, oder weil noch in „Stallkleidung“, heftig sträubte hereinzukommen.

Zwei Personen auf einem Bild
Maria und Heinz Hoch
Das „Gronauer Dientstleistungszentrum“

Alsdann bekam er einen Kaffee verpasst. Obwohl, ich glaube nicht, daß es richtiger Bohnenkaffee war, der war damals, in den frühen 50er Jahren, unerschwinglich. Wahrscheinlich war es „Malzkaffe, Muckefuck, Kaffee-Ersatz“, es gab damals vorwiegend „Kathreiner“oder „Linde“, eine Mischung aus gerösteter Gerste und wer weiß was sonst noch drin war. Jedenfalls war er in einer weißen Tüte mit blauen Punkten.

Wenn der Bittsteller also nun, trotz mehrfacher dankender Ablehnung, endlich seine Tasse dampfenden, dunkelbraunen Getränks vor sich hatte, wurde er oder sie schnell noch zu einem Stück „Riwwelkuche“ genötigt.

Nun begann, wie beim Arztbesuch üblich, eine gründliche Bestandsaufnahme des Unwohlseins unter genauer Abfrage aller Symptome. Meist folgte auch gleich ein guter Rat, was bei derartigen Erkrankungen an Hausmittelchen anzuwenden sei. Eine ordentliche Hausapotheke bestand damals hauptsächlich aus einem Fläschchen „Essigsaure Tonerde“, für eigentlich Alles, oder zusätzlich ,“Mallebrin“, eine kleine flache Flasche mit einer intensivblauen Flüssigkeit, mit der man Halsschmerzen hinweggurgelte. Hier half oft eine einmalige Anwendung, weil das Zeug so komisch schmeckte und ein stumpfes Gefühl in Mund, Hals und Rachen hinterließ, so daß man eine zweite Anwendung dankend ablehnte.
Nach solchen Erörterungen – wie man heute weiß, ist es wichtig, daß man bei Behandlungen als Patient das persönliche Gespräch schon als Teil der Therapie erfährt, – ging meine Oma nun dazu über, für den jeweiligen Patienten den Krankenschein auszufüllen, um ihn dann, fast schon therapiert, mit guten Genesungswünschen zum Arzt zu entlassen.

„Dienstleistungszentrum Gronau“

von Hansfried Münchberg

Meine Großeltern waren etwas für Gronau, was es damals eigentlich noch gar nicht gab, ein regelrechtes Dienstleistungszentrum.

Wie beschrieben, war meine Großmutter die AOK, aber wer zum Beispiel seinen Hof gegen Feuersbrunst, seine Ernte gegen Hagelschlag oder sein Vieh gegen Maul- und Klauenseuche versichern wollte, der war bei meiner Großmutter gerade richtig, denn sie war auch die Versicherungsagentur des Ortes.

Da sie eine ausgebildete Bürokauffrau war, des Hochdeutschen mächtig, was man nicht von jedem Gronauer behaupten konnte, zudem noch eine eigene Schreibmaschine besaß, war sie auch das Schreibbüro des Ortes.
Wer immer ein Schreiben an Behörden, Versicherungen oder sonst etwas Amtliches zu schreiben hatte, klopfte bei uns an, rief vom Flur her „Fraaaa Hoooch“ und wurde schon hereingebeten, zum Kaffee und Riwwelkuche genötigt, saß schon am Küchentisch.
Meine Oma stenografierte mit, was denn zu erledigen sei, fasste das Problem in hochdeutsche, amtsgerechte Sprache, brachte es, mit Durchschlag in eine ansehnliche Form. Zum Lohn gab es einen Ring hausgemachte Leberwurst, einen Teil einer Speck-Seite, eine Presskopp oder einen Korb mit Kartoffeln.

Überflüssig zu erwähnen, meine Oma erledigte auch die schriftlichen Arbeiten im Rathaus. Sie hatte dort eine Stelle als Putzfrau, aber ich habe sie dort nie putzen sehen. Sie konnte wunderbare Reden für den Bürgermeister schreiben, Urkunden ausstellen, das Impfregister führen und Protokolle der Gemeinderats-Sitzungen anfertigen.

Historisches Friseuwerkzeug
Die Ausrüstung die Halb Gronau zu einem
vernünftigen Haarschnitt verhalf

War eine Beerdigung im Dorf, stand Allerheiligen an, oder mußte sonst etwas auf dem Friedhof geschmückt werden, bei uns konnte man Kränze und Grabschmuck bestellen, der wurde aus Vilbel geliefert und konnte bei Hoch`s abgeholt werden. Selbstverständlich konnte man auch für einige Zeit die Grabpflege in Auftrag geben, Kirchenschmuck für Hochzeiten, gewundene Girlandenbögen mit Rosen aus weißem Krepp-Papier waren kein Problem.

Wer als Mann eine vernünftige Frisur brauchte, war bei meinem Opa sehr gut aufgehoben. Er beherrschte, für damalige Zeiten unüblich, den Façon-Schnitt. Mit einer Effilierschere und einem mit Muskelkraft betriebenen mechanischen Haarschneider brachte er die männliche Bevölkerung auf Hochglanz.

Wer ein Buch lesen wollte, kein Problem, in Opa`s Werkstatt stand eine riesige Holzkiste, gefüllt mit Büchern, die Bibliothek des Dorfes. Hier wurde die Ausleihe und Rückgabe feinsäuberlich mit Karteikarten festgehalten.

Historisches Glaserwerkzeug
Diamant -Glasschneider und Kantenschleifer, wertvolle
und wichtige Werkzeuge meines Großvaters

Da mein Großvater aus einer Weinbauernfamilie, dem Weingut Hoch (heute hervorragende Qualitätsweine), in Biebelsheim, in Rheinhessen stammte, war es natürlich keine Frage, wer Wein brauchte, Hoch konnte liefern. In unserem Keller befand sich ein Riesensortiment ausgewählter Weine, nach damaligem Geschmack eher lieblich bis schwer.
Opa war Glasermeister, also konnte er Alles was mit Glas zu tun hatte. Natürlich erledigte er auch Schreinerarbeiten wie Restaurieren von Kleinmöbeln und dergleichen mehr.

War es darüber hinaus nötig, eine Sau oder Kuh zu wiegen, einen Wagen mit Getreide oder Rüben, es klopfte bei uns, mein Großvater hatte die Gemeindewaage zu betreuen. Bei dieser Gelegenheit hat er auch noch das Amt des Ausschellens übernommen, einmal wöchentlich wurden an markanten Ecken des Dorfes die Gemeindenachrichten verlesen.

Samstags mußte dann noch um zwölf Uhr die Sirene auf ihre Funktionstüchtigkeit überprüft werden. Ein Termin, zu dem wir unseren Opa gerne begleiteten. Das Ding war oben auf dem Rathausdach installiert und machte einen Höllenlärm.