Es begab sich aber zu der Zeit, als mein Neffe auszog, um seine Schulferien im gelobten Land, in Gronau zu verbringen. Es war das Land seiner Großväter und Onkel und außerdem die Stätte seiner „frühen“ Kindheit. Das Licht der Welt erblickte er nämlich in nächster Nähe, im Krankenhaus in Bad Vilbel.
Gronauer Indianercowboyritterpirat
Mittlerweile im tiefen Kohlenpott beheimatet, stieg zu Beginn der Sommerferien die Sehnsucht nach den Prärien, Wäldern, Steppen und Sümpfen der Gronauer Umgebung. Er sehnte sich nach den Plätzen, die Abenteuer versprachen wie „das Ried, die Hohl, das Rohr und den Steinbruch“ Auch nach dem Stampfen und Pfeifen des legendären Dampfrosses „Stockheimer Liesi“, an dessen Bahndamm man aus dem Dickicht der Hecken, unter wildem Geheul, die tollsten Überfälle nachstellen konnte, von denen man aus dem einschlägigen Schrifttum Kenntnis hatte.
Hier vor Ort, bei seinen Großeltern musste ich, sein eineinhalb Jahre älterer Onkel, das komplette Revier bis zu den Sommerferien gegen Banditen und Diebe alleine verteidigen. Eine ganze Palette jugendlicher Begierden begann um diese Jahreszeit zu reifen. Nicht nur die bodennahen Leckereien wie Rhabarber, Radieschen, Erdbeeren etc., sondern auch die Him- und Brombeeren, Kirschen, Reineclauden und vor allem die Pfirsiche waren bei den Buben sehr begehrt. Die meisten Früchte hatten nur geringe Chancen, den Reifeprozess zu beenden.
In diesen 50er Nachkriegsjahren war Hunger bei den Jugendlichen der tägliche Begleiter.
In jeder Stunde, bei Wind und Wetter an der frischen Luft und durch Spiel, Sport und Wettkämpfe immer in Bewegung. Um bei Kräften zu bleiben musste man was tun!
Das Ernährungsangebot hielt sich in verhältnismäßig engem Rahmen. Auch das Geld war bei den meisten Familien in dieser „schweren Zeit“ noch knapp bemessen. Die Jugend kannte noch keinen PC oder Smartphone und einen Fernseher gab es auch nur vereinzelt, meist in öffentlichen Lokalen.
Das Hauptaugenmerk richtete sich also auf die Freizeitgestaltung und auf die Ernährung. Die Anregungen zur Gestaltung der Freizeit (wenn diese nicht mit einschlägigen Ballsportarten wie z.B. Fuß- oder Völkerball ausgefüllt war) wurde zu großen Teilen der uns zugänglichen Lektüre entnommen. Meine Eltern bezeichneten diese sehr abfällig als „Schund“ und abwertend wurde dieses tolle Schrifttum nur als „Schmöker“ tituliert. Die Literaturpalette umfasste alle Personen die zu Abenteuern fähig waren, von A – wie Akim über Sigurd, Tarzan, Tom Prox bis zu Z – wie Zorro.
Eine gut funktionierende Tauschbörse war der Grundstein für die Ideen von entsprechend sinnvollen Freizeitgestaltungen.
Letzteres waren in erster Linie „Waffen“ aus Holz, wie Pfeil und Bogen, Keulen und Schwerter. Daß im wilden Westen weder Cowboys noch Indianer sich mit Schwertern verteidigten, war uns im Angesicht immer präsenter Bedrohung auch egal.
Zum Inventar der „Blockhütte“ zählte u.A. auch eine zweisitzige Holzbank, die uns mein Vater in seiner Werkstatt gefertigt hatte.
Eines Tages kamen wir durch das Sichern von Spuren zu der Vermutung, dass genau diese Bank vor kurzem zum Diebstahl an unseren Pfirsichen benutzt wurde.
Es erwies sich als extrem sicherer Verdacht, da sowohl Fußspuren auf der Bank, als auch Pfirsichreste in Form von Kernen von uns gesichert werden konnten.
In unseren Überlegungen reifte eine schwerwiegende Entscheidung, die keinen Aufschub duldete. In den frühen Morgenstunden des Folgetages begann unser Aushub für eine Fallgrube vor unserer Blockhütte.
Als „Eingangstür“ zur Hütte diente uns bisher eine alte braune Decke, in unserer Region auch „Kolder“ genannt. Wie in Indianer-Regionen, laut unserer Lektüre üblich, transportierten wir in ihr den Aushub zu den Kartoffel- und Gemüsebeeten unseres großen Gartens. Dort wurde die Erde unauffällig verteilt, so daß Außenstehende keinen Verdacht schöpfen konnten.
Die Grabungs- und Aushubarbeiten zogen sich in die Länge, da ja auch Fußballspiel, Bad in der Nidder oder „Kerschele“ am Steinbruch in der Hohl zu Unterbrechungen zwangen.
Die Baustelle wurde aber täglich getarnt, damit die Geheimhaltung gewahrt blieb. Nachdem die Fallgrube unseren Vorstellungen entsprach wurde sie mit Ästen, Reisig und Laub abgedeckt und darauf mit einer dünnen Erdschicht versehen. Die Tarnung war perfekt !
Unsere Arbeiten konnten über die gesamte Bauzeit bei strahlendem Sommerwetter vollzogen werden. Wir sahen aus wie echte Rothäute, da wir in dieser Zeit barfuß und nur mit einem „Lendenschurz“ (Bade- oder Turnhose) auskamen, so dass die Sonne entsprechende Wirkung hatte.
Die Sommerzeit beinhaltete in unserer Erinnerung auch schwere Gewitter, meistens in der Nacht.
Ein solches hatte sich in dieser Nacht geraume Zeit über Gronau entladen und außerdem hatte der Himmel alle Schleusen geöffnet. Ein richtiger Wolkenbruch, so empfanden wir es damals.
Am nächsten Morgen war der Himmel wieder klar und die Luft herrlich rein, bis zu dem Zeitpunkt, als meine Mutter den Frühstückstisch deckte. Sie vermisste ein „Kneipchen“, das sich normalerweise an einer bestimmten Stelle der Küchenschublade zu befinden hatte. Nach längerem Suchen überkam sie die Vermutung, dass sich dieses Küchenutensil in der Blockhütte befinden könnte. Die Bestätigung der Vermutung musste verschoben werden, da meine Mutter noch nicht den Sprung über eine vollgelaufene Grube beherrschte !
Ich glaube mich zu erinnern, dass das Messer dann bei dem Abriss des Blockhauses später gefunden wurde.
In einer „Standpauke“, bei der auch ein hölzerner Kochlöffel zu Bruch ging, wurde uns die Tragweite unserer „Obst-Sicherungsanlage“ klar gemacht. Ohne Gewitter wäre in der Fallgrube vielleicht auch eine Messer suchende Person verschwunden. Also- auch ein Gewitter kann seine positiven Seiten haben.
In den nächsten Tagen war – so glaube ich – Hausarrest angesagt. So mussten wir diese Zeit in Vaters Werkstatt mit dem Bau von Panzern aus Sanella-Kartons verbringen.
Hierzu war kein Erdaushub notwendig!