Ein „rührender“ Zeitgenosse, oder –
„Die Überwindung der Schwerkraft“
Tatsächlich, es war ihm wieder gelungen!
Gebannt hatten wir die Szene verfolgt. Wir stießen uns gegenseitig unter dem Küchentisch an, glucksend konnten wir nur mühsam unser Lachen unterdrücken.
Wieder war es ihm gelungen, die braune, dampfende Flüssigkeit in dem weißen Porzellangefäß in eine derart rasante Rotationsbewegung zu versetzen, daß sie, den Gesetzen der Gravitation zuwider, angetrieben von einem silbernen Löffel, am Gefäßrand hochgedrückt wurde. Die Drehbewegung war so nachhaltig, daß die Flüssigkeit den oberen Gefäßrand erreicht, übergeschwappt, an der Außenwand heruntergelaufen war, um als Pfütze in der Untertasse zu enden.
Der Mann, dem wir dieses Schauspiel verdankten, kam alle zwei Wochen, immer Donnerstags, zur Tür herein. Wir Kinder, aber auch die Erwachsen erwarteten sein Eintreffen sehnlichst, niemand wollte dieses Naturereignis verpassen.
Der, von dem hier die Rede ist, war Alois Zwicklbauer, Textilkaufmann aus Offenbach-Bieber, geboren in Zwiesel im Bayerischen Wald, mit einem niederbayerischen Dialekt ausgestattet, von überschäumendem Temperament und ein ausgesprochenes Verkaufsgenie.
Es war Donnerstag, wir Buben, mein zwei Jahre älterer Onkel Rainer und ich, saßen schon erwartungsvoll am Küchentisch. Es rumpelt an der Tür, ein Wortschwall, den nicht einmal Etymologen, die des Bayerischen mächtig sind, übersetzen könnten.
Die Küchentür fliegt auf, da steht „ER“ !
In jeder Hand trägt er eine riesige schwarze Tasche. Daraus quellen und hängen Textilien aller Art. Man würde annehmen, sogleich begänne nun das Verkaufsgespräch, aber nein; „Zwicklbauer, en Kaffee, en Riwwelkuche?“ fragt meine Oma und schiebt ihm Beides sofort auf seinen Stammplatz. Zwar wehrt er bescheiden und energisch ab, sitzt aber schon, hat auch den Kuchen bereits in der linken Hand, während er mit der Rechten das eingangs geschilderte Experiment beginnt. Er beschleunigt den Kaffee nicht aus dem Schwung der Finger oder des lockeren Handgelenks, nein, die Energie kommt aus dem Schwung des Ellenbogens unter kräftigem Einsatz des Oberarms.
Gleichzeitig mit den Rührbewegungen beginnt er zu erzählen. Unglücklicherweise sind sein überschäumendes Temperament, die Geschwindigkeit seiner Zunge sowie die Überfülle seiner Gedanken nicht mit der Schwerfälligkeit seines niederbayerischen Dialekts synchron zu bringen. Nur ein Teil des Gesagten und Gehörten ist mühsam in einen zusammenhängenden Sinn zu bringen. Obwohl oder gerade weil die Zuhörer auf seine Sätze wegen totalem Unverständnis nicht reagieren können, kommt er immer mehr in Schwung, wird immer schneller, man könnte auch sagen hektischer, weil ihm immer mehr einfällt, je mehr er gerade erzählt. Um Gedankenlücken zu füllen, fügt er gerne an jedem zweiten Satz ein: „Sssoso, die Frau Hoch“ ein.
Nach etwas mehr als einer Viertelstunde beginnt er aber endlich mit dem eigentlichen Verkaufsgespräch. Er nestelt an den Schnallen seiner Taschen und präsentiert eine unglaubliche Kollektion an Textilien. Man kann fast sagen, ohne Zwicklbauer wäre halb Gronau fast nackt herumgelaufen.
Dieses „Kaufhaus auf zwei Beinen“ führte alles was man zum Überleben brauchte. Angefangen beim fleischfarbenen Korsett für die Urgroßmutter, dicken, wollenen Unterhosen kurz, halblang oder langbeinig, Strümpfe in nie wieder gesehener Vielfalt, Leibchen für Jungen und Mädchen, bunte Kittelschürzen, Schürzen und Blusen in dunkelblau mit kleinen weißen Streublümchen oder gepunktet, Frotteetücher, Geschirrtücher, Putzlumpen um auch nur ansatzweise die Vielfalt seines Sortiments zu schildern. Keine Frage, natürlich führte er auch allerlei Kurzwaren wie Strapse, Schnürsenkel, Bänder und Vieles mehr.
Sein Geschäftsprinzip beruhte auf dem Kreditwesen.
Er hatte ein schwarzes Notizbuch mit grauen, abgestoßenen Ecken, zusammengehalten von einem Einmachgummi.
Darin wurde ein jeder Kauf eingetragen, natürlich auf Pump, wer hatte in diesen schlechten Zeiten der Nachkriegsjahre schon Bargeld!
Die zu entrichtende Summe wurde fein säuberlich notiert und nach jeweils einer kleinen Ratenzahlung immer wieder korrigiert, bis endlich eine „Null“ dastand. Zeit für Neuerwerbungen!
Die Raten konnte jeder abbezahlen wann und in welcher Höhe er gerade konnte.
So hatte Alois Zwicklbauer alle vierzehn Tage einen guten Grund hereinzukommen um zu fragen, ob denn diesmal etwas bezahlt werden soll, oder ob vielleicht etwas gebraucht würde, Gelegenheit mal wieder eine Tasse Kaffe „überzuschlabbern“.
„Zwicklbauer, en Kaffee, en Riwwelkuche?“ Das Spiel konnte wieder von vorn beginnen.
Übrigens, aus diesem „Kaufhaus auf zwei Beinen“ ist ein Textilkaufhaus entstanden, das meines Wissens, heute noch in Offenbach-Bieber existiert!