Von Gronau in die weite Welt

von Hansfried Münchberg

Aquarell eines Dampf vor dem Bahnhofsgeb&auml Gronau

In den frühen 50er Jahren waren Autos in Privatbesitz in Gronau die absolute Ausnahme. Soweit ich mich erinnere hatten nur zwei oder drei Leute ein eigenes Fahrzeug.

Wer also das Dorf verlassen wollte oder mußte, war entweder auf die Füße angewiesen, bis nach Vilbel oder Dorfelden konnte man gut zu Fuß gehen, oder aber er nahm Gronaus Verbindung zur „Weiten Welt“, das Stockheimer Lieschen.

Dieser von einer Dampflokomotive gezogene Zug, meistens aus drei bis vier Wagen bestehend, die Wagen noch mit offenem Perron, verkehrte in den frühen Morgenstunden zu Arbeitsbeginn und Schulbeginn halbstündlich, danach in der Mittagszeit nur noch stündlich.

Nach einem Fahrplan aus dem Jahre 1957 ging der erste Zug morgens nach Bad Vilbel um 4.43 Uhr, der erste Morgenzug nach Frankfurt Hbf. fuhr um 5.19 Uhr und kam um 5.54 Uhr im Frankfurter Hauptbahnhof an.
Die Reisezeit Gronau – Frankfurt betrug im Durchschnitt 35 Minuten.
Der Zug schlängelte sich in weitem Bogen von Nordost nach Frankfurt hinein. Haltepunkte auf dem Weg dorthin waren: Bad Vilbel, Bad Vilbel-Süd, Berkersheim, Bonames, Eschersheim, Frankfurt-West, Frankfurt Hbf.

In die Gegenrichtung befuhr der Zug die Strecke bis Stockheim in etwa einer Stunde. Haltepunkte waren hier: Niederdorfelden, Oberdorfelden, Kilianstädten, Büdesheim, Windecken, Heldenbergen, Eichen, Höchst (Nidder), Altenstadt, Lindheim und Glauberg.

Die Waggons waren mit spartanischen Holzbänken ausgestattet, der Aufenthalt auf den offenen Perrons war während der Fahrt verboten, was jedoch von niemandem beachtet wurde. Gerade die Fahrt im „Freien“ hatte für uns Kinder einen unglaublichen Reiz. Man konnte in einer Kurve wunderbar die fauchende, dampfende Lok sehen, das Spiel der Puffer und der Kupplungen war faszinierend zu beobachten.

Mit einer solchen Zugfahrt von Gronau nach Frankfurt waren weitreichende Vorbereitungen verbunden.

Meine Großmutter litt an fürchterlichem Reisefieber, was sie mir leider vererbt hat. Dieses brachte es mit sich, daß die Fahrt schon Tage vorher sorgfältig geplant wurde. Obwohl die Fahrpläne sich eigentlich nie änderten, obwohl wir, weil Opa bei der Bahn war, einen riesigen Wälzer namens „Kursbuch der deutschen Bahn“ zu Hause hatten, ging Oma mit uns sicherheitshalber ein bis zwei Tage vor der Fahrt nochmal zum Gronauer Bahnhof, um dort den offiziellen Fahrplan zu studieren, auch um zu erkunden, von welchem Gleis der Zug wohl abfahren würde. (Gronau hatte nur ein Gleis). Wenn es der Zufall wollte, und der wollte eigentlich immer, wurde auch noch der Bahnhofsvorsteher gefragt, ob sich an den Abfahrtszeiten auch wirklich nichts geändert habe.

Alsdann betraten wir die Schalterhalle samt Wartesaal, auch das gab es in Gronau, hinter dem Schalter stand ein riesiger Schrank mit einer unglaublichen Anzahl von verschiedenen braunen Kärtchen, alle gleich groß, manche mit roten Querstreifen, manche mit blauen Längsstreifen. Aus diesem Schrank heraus wurden nun die Fahrkarten entnommen. Nachdem Oma sich vergewissert hatte, daß sie auch ja die richtigen Karten hatte, ging es nach Hause, um weitere Vorbereitungen zu treffen.

Schild: Zum Abort
Dieses Schild fehlte damals auf keinem Bahnhof

Am Tag vor der Fahrt wurde schon einmal eine Art Picknick-Korb gepackt, die Thermoskanne bereitgestellt, Eier gekocht.

Am nächsten Morgen galt es, zeitig aufzustehen, wir, mein zwei Jahre älterer Onkel Rainer und ich, wurden von oben bis unten abgeschrubbt, gekämmt, gewienert und gebürstet. Die allerbesten Hosen wurden angezogen, wir hatten nur jeweils zwei, also war die Auswahl nicht so schwer. Brote wurden geschmiert, in Butterbrotpapier eingewickelt, Äpfel oder Tomaten konnten auch nicht schaden, einen Salzstreuer brauchten wir, es wurde Tee gekocht, abgefüllt in die Thermoskanne, nun aber nichts wie ab zum Bahnhof.

Wir waren im Normalfall etwa eine halbe Stunde vor Abfahrt am Gleis 1!
Das machte nichts, man konnte dann sehr gut noch einmal in die Gepäckaufbewahrung und Gepäckabfertigung schauen, das war immer spannend, viele Koffer, Kisten, Kartons, alles was nach Gronau mußte oder von Gronau verschickt wurde.

Zu unser Verwunderung sind wir immer pünktlich und heil nach Frankfurt und auch wieder zurück nach Gronau gekommen.

Beliebt waren die Minuten, die wir in Frankfurt am Bahnhof auf den Zug nach Hause warten mussten. Es wurde immer so eingerichtet, daß wir viel Zeit im Frankfurter Hauptbahnhof verbringen konnten.

Erst galt es, die Bahnhofsvorhalle zu durchqueren, bei dem Bäcker wurden frische Wasserweck oder Brezeln gekauft. Natürlich stiegen wir gerne auf die Personenwaage, ein buntes Rad rotierte, man mußte einen Hebel drücken und dann wurde die Gewichtskarte, ähnlich der Fahrkarte, ausgedruckt und ausgeworfen.

Sehr gerne waren wir im AKI – Kino, damals waren das noch keine Schmuddelkinos mit Pornos. Die Abkürzung „Aki“ stand für „Aktualitäten-Kino“, eine Kinokette in den großen Bahnhöfen der 50er Jahre, erkennbar am Logo, einem Globus mit den drei Buchstaben „aki“.

Dort wurde ein etwa halbstündiger Zusammenschnitt aus den deutschen Wochenschauen gezeigt, danach kurze Kultur- und Dokumentarfilme über Vulkane, Geysire und Klapperschlangen sind mir in Erinnerung,aber auch Western mit vielen Cowboys und Indianern und oft Zeichentrickfilme wie Tom und Jerry oder Donald Duck. Insgesamt dauerte das Programm rund 50 Minuten in einer Endlosschleife.

Nachdem das Eintrittsgeld entrichtet war, konnte man so viel Zeit im Kino verbringen wie man mochte. Aber irgendwann mußte man los, man wollte ja noch rechtzeitig zum Zug. Natürlich mit einem Zeitpolster, es gab ja noch so viel zu sehen und zu erleben.

Überall hasteten Dienstmänner mit schweren Koffern über die Bahnsteige, die Elektrokarren mit vielen Anhängern, selbst schon kleine Züge, brachten Fracht, aufgegebene Gepäckstücke und Postsäcke von einem Zug zum anderen.

Wer nicht mit dem Zug mitfahren wollte, aber trotzdem auf den Bahnsteig wollte, mußte eine Bahnsteigkarte für 10 oder 20 Pfennig lösen. Erst dann konnte man die Sperre durchqueren, nach Kontrolle und Knipsen, versteht sich.

Auf dem Bahnsteig dann verlockende Automaten mit Pfefferminz-Drops oder PEZ-Box, oder noch besser, ein Würstchenverkäufer mit einer Art Bauchladen „Heiße Würstchen“ !.

Bis sich der Zug in Bewegung setzte, war es die immer gleiche Prozedur, Gepäck im Gepäcknetz verstauen, an dem dicken hellbraunen Lederriemen das Fenster herunterlassen, es roch nach heißem Dampf, rostigem Eisen und Kohleruß, nach dem Mann mit der roten Mütze Ausschau halten, Kelle hoch, Pfiff mit der Trillerpfeife, ein lautes „Schschschuchschschuchschuchpffftpffftpffftschtschtsch“ und das Stockheimer Lieschen nahm Fahrt auf Richtung Heimat, auch wenn die nur eine halbe Stunde entfernt war.

Wir hatten fast eine Weltreise gemacht!

Noch heute habe ich, wenn wir auf Reisen sind, zum Frankfurter Bahnhof eine ganz besondere Verbindung. Diese riesige Halle, die Metallkonstruktionen, die farbigen Glasflächen, das war schon sehr beeindruckend.