von Alfred Fischer

Die Gronauer Wiesen an der Nidder waren bereits für viele Generationen vor uns der Inbegriff für Eisvergnügen im Winter. Wenn es rechtzeitig genügend Regen gab, oder wenn die erste Schneeschmelze im Vogelsberg eine Hochwasserwelle brachte wurden die Wiesen zur Seenlandschaft. Die Nidder, die sich normalerweise eher träge durch die Auen schlängelte, wurde zum reißenden Fluss. Oft hielten die Dämme den Wassermassen nicht stand und brachen. An vielen Stellen strömte dann das Wasser unkontrolliert und mit großer Gewalt auf die Wiesen. Manchmal stand das Wasser so hoch, dass die Straße nach Rendel über weite Strecken überflutet war und die Rendeler Bahnpendler nasse Füße bekamen, wenn sie zur Arbeit wollten. Nur hier und da ragte noch ein Baum oder ein Busch aus dem entstandenen See.

Sehr oft war es dann so, dass das Wasser den umgekehrten Weg nahm und abfloss, bevor es kalt wurde. Das war nicht so im Februar 1956. Da setzte der Frost ganz heftig ein noch bevor das Wasser abgeflossen war und bescherte den Eislauffreunden eine riesige Eisfläche. Auch das Wasser aus dem Dorf war noch nicht gänzlich abgeflossen und gefror. So war es möglich, die Schlittschuhe bereits zu Hause anzuschnallen und im gefrorenen „Floss„ der Hauptstraße- Kanalisation gab es noch nicht- bis an die Niddabrücke zu gelangen.

Die Temperaturen blieben sehr lange auf sehr tiefem Niveau und so kam es, dass auch die Nidder total zufror. Die Aufzeichnungen des Wetterdienstes weisen für den Februar 1956 eine Durchschnitttemperatur von – 9,6 ° aus.

Der Frost hielt sich sehr lange, es kam aber zu keinen weiteren Niederschlägen. So floss das Wasser ab und ließ große Flächen von hohlem Eis zurück. Dieses Eis brach, bekam Risse und es wurde so für Schlittschuhläufer gefährlich. Es blieben aber immer noch große Teile des Eises auf denen man wunderbar laufen konnte. Das Eis auf der Nidder war außergewöhnlich dick, war aber mit dem ablaufenden Wasser abgesackt und an den Bachrändern abgebrochen.

Gegen Ende des Monats setzte Tauwetter ein. Der Wasserstand in der Nidder schwoll an und hob das Eis auf das jeweilige Niveau des Baches. Die bereits abgebrochenen Eisschollen begannen sich zu lösen und trieben im Bach abwärts.

So eine Situation hatten wir bisher nicht erlebt. Stücke von mehreren Quadratmetern schoben sich übereinander, kollidierten mit anderen Schollen und wurden doch wieder frei gedrückt. Dabei sah man, wie dick das Eis wirklich war. Es müssen so um die 20- 25 cm gewesen sein, der größte Teil davon trieb unter Wasser.

Es schien als wäre ein Wettlauf der Schollen untereinander entbrannt. Jede wollte überholen und schneller vorankommen als die andere. Inzwischen war eine große Schar von Jungen zusammengekommen um das Geschehen zu beobachten. Einige hatten sich Stangen oder Äste besorgt und halfen der einen oder anderen Scholle schneller freizukommen. Die beste Stelle dafür war die Biegung der Nidda am damaligen Ortsrand von Gronau, da wo heute das Haus der Geibels steht. Hier kamen die Eisstücke bis an den Rand des Baches und ließen sich gut erreichen.

Wer sich als Erster traute auf eine der großen Schollen zu springen und sich treiben zu lassen, kann ich heute nicht mehr sagen. Wahrscheinlich war es einer der älteren Jungen oder Reinhold, der meistens der Mutigste war. Als wir anderen sahen, was möglich war und dass die Sache offensichtlich auch noch Spaß machte, trauten sich alle. Bei größeren Schollen war es sogar möglich, dass gleich mehreren Jungen aufsprangen. Die Stangen nahmen wir mit und steuerten damit die Fahrt.

So trieben wir denn gemächlich schaukelnd und immer wieder mit anderen Stücken kollidierend den Bach runter und hatten einen Heidenspaß. Wie hoch das Wasser war merkten wir als wir die Rendeler Brücke unterquerten. Hier musste man in die Hocke gehen und den Kopf einziehen um nicht anzustoßen.

Hinter der Brücke wurde die Fahrt dann schneller und unter großem Hallo trieben wir auf die „A-brück„ zu. Allmählich war es ratsam die Scholle an den Rand zu steuern und abzuspringen, denn bis zur Nidda zu treiben war sicher nicht ratsam bei der Menge von Wasser und Treibeis.

So ging es eine ganze Zeit. Vor der Brücke sprangen wir ab, liefen zurück und fuhren erneut; eine Riesengaudi. Daß die Sache aber nicht nur Spaß machte sondern auch gefährlich sein könnte kam uns nicht in den Sinn. Hätten unsere Eltern oder Lehren von diesem Treiben gewusst, sie hätten es uns sicher ganz schnell verboten.

Es kam dann sowieso zu einem schnellen Ende. Bernd, der vor der Brücke abspringen wollte rutschte aus, landete zwar am Bachdamm, lag aber halb im Wasser. Einer seiner Füße geriet dabei zwischen zwei Eisschollen.

Helle Aufregung, Bernd litt große Schmerzen. Der Fuß schwoll sofort an und wir mussten davon ausgehen, dass er gebrochen war. Augenblicklich hatte keiner mehr Lust auf Treibeis. Wir brachten Bernd nach Hause und verkrümelten uns einer nach dem anderen.

Wie sich bei der späteren Untersuchung herausstellte war Bernds Fuß nicht gebrochen. Er war mit einem heftigen Bluterguss davongekommen, wird die Fahrt auf dem Treibeis aber sicher nicht in besonders guter Erinnerung haben.